Interdisziplinäres Leibniz-Symposium zeigt Wege ins Zeitalter der Präzisionsmedizin auf
„Die Zeit des Mittelwerts ist vorbei. Das Zeitalter der Präzisionsmedizin hat begonnen. Die Medizin nimmt zunehmend das Individuum in den Blick mit seiner einzigartigen biologischen Ausstattung und psychosozialen Situation“ – so fasste Prof. Ernst Rietschel, ehemaliger Präsident der Leibniz-Gemeinschaft und früherer Vorstandsvorsitzender des Berlin Institute of Health, das eintägige Symposium des Forschungsverbunds Leibniz Gesundheitstechnologien abschließend zusammen. Vor mehr als 100 Gästen hatten zuvor Wissenschaftler, Ärzte, Industrieentwickler, Ethiker und Juristen den aktuellen Stand der personalisierten Medizin in seiner Vielschichtigkeit beleuchtet.
Die wissenschaftliche Organisation der Veranstaltung und Leitung durch das Programm übernahmen Prof. Jürgen Popp, Sprecher des Forschungsverbunds „Leibniz Gesundheitstechnologien“ und Direktor des Leibniz-Instituts für Photonische Technologien, sowie Prof. Wolfram Eberbach, Ethikzentrum der Friedrich-Schiller-Universität Jena und Rechtsanwalt in der Erfurter Kanzlei Bietmann Rechtsanwälte PartmbH.
Von der KI-basierten Anamnese bis zur personalisierten Therapie
So stellte beispielsweise Dr. Martin Christian Hirsch die App „Ada“ vor, mit der Patienten noch vor dem Arztbesuch eine individuelle Vor-Anamnese mit Hilfe künstlicher Intelligenz durchführen können. Insbesondere in Hinblick auf tausende seltenen Krankheiten könnte dies eine große Hilfe für Mediziner darstellen, erklärte Hirsch: „KI-Systeme von Ada Health ersetzen keine Ärzte. Sie machen allerdings das stets wachsende medizinisches Wissen besser handhabbar und schaffen für die Ärzte Freiräume, sich wieder stärker empathisch um den Patienten kümmern zu können.“ Solche Systeme können künftig eine wichtige Rolle in Gebieten mit mangelnder ärztlicher Versorgung spielen, weshalb die Firma mit der Fondation Botnar und der Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung kooperiert.
Darüber hinaus spielten auch Ansätze für personalisierte Diagnostik und Therapie-Monitoring in Kliniken bei dem Symposium eine wichtige Rolle. Wissenschaftler des Leibniz-Instituts für Photonische Technologien (Jena) stellten lichtbasierte Verfahren zur schnellen Erreger- und Resistenzbestimmung bei Sepsis vor und zeigten wie multimodale Bildgebung die Tumorrand-Erkennung während der Operation ermöglichen könnte. Leibniz-Forscher des FZ Borstel präsentierten indes Ansätze zur Charakterisierung neuer Biomarker zur individualisierten Diagnostik und Therapie bei Asthma und COPD und zeigten zudem auf, welche Verbesserung eine umfassend individualisierte Tuberkulose-Therapie verspricht.
Doch die Vielzahl neuer Möglichkeiten für personalisierte Diagnostik und Therapien gehen zugleich einher mit rechtlichen und ethischen Herausforderungen. Prof. Christiane Woopen, Vorsitzende des Europäischen Ethikrates, warf in ihrem Vortrag unter anderem die Frage auf: Wie gehen wir mit Algorithmen um, mit denen wir eine individuelle Sterbewahrscheinlichkeit berechnen können? Einerseits lassen sich daraus leicht Alptraumszenarien entwerfen, andererseits kann eine solche Berechnung auch die angemessene Versorgung von Patienten am Lebensende verbessern, zum Beispiel durch rechtzeitige Aufnahme in ein Hospiz. Technologien zu Personalisierung seien demnach weder gut noch schlecht, die Gesellschaft müsse sich jedoch rechtzeitig über gewünschte und nicht gewünschte Folgen für das Zusammenleben austauschen.
„Think and act Leibniz“ – Zusammenarbeit über Disziplingrenzen hinweg
Für Prof. Mathias Kleiner, Präsident der Leibniz-Gemeinschaft, ist die im Symposium präsentierte disziplinübergreifende Zusammenarbeit der Schlüssel, um eine individualisierte Medizin bis zum Patienten zu bringen: „Interdisziplinarität beschleunigt die Translation von Wissen in neue Medizinprodukte und stellt zugleich sicher, dass ökonomische, ethische und soziale Fragestellungen nicht aus dem Blick geraten. Die interdisziplinäre Kooperation im Leibniz-Forschungsverbund liefert damit einen wichtigen Beitrag, um personalisierte Diagnosen und Behandlungen in Kliniken und Arztpraxen zu etablieren.“